Wirtschaftsexperte Drei Dinge macht Deutschland schlechter als China

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Drei Dinge mache Deutschland schlechter als China, sagt ein ehemaliger VW-Manager.

Donnerstag, 26.10.2023, 12:26

1978 sorgte er dafür, dass Peking VW ins Land ließ. Heute beobachtet Wenpo Lee, wie Deutschland China hinterherhinkt - aus drei Gründen.

Wenpo Lees Leben ist das eines sozialen Aufsteigers, eines Aus- und Zuwanderers, auf den Heimat- und Gastland gleichermaßen stolz sind. Geboren wurde Lee 1936 als Sohn eines Getreidehändlers im chinesischen Nanjing. Als Zwölfjähriger flüchtete er während des chinesischen Bürgerkriegs nach Taiwan, fand dort ein Lehrerehepaar, dass sich seiner annahm, ihm den Schulbesuch ermöglichte. Als Erwachsener siedelte er nach Deutschland über, legte an der RWTH Aachen sein Motorentechnikstudium mit Bestnoten ab und stieg als erster chinesischer Ingenieur überhaupt bei Volkswagen ein und bis zum VW-Generalbevollmächtigten in China auf.

Lees Leben ist auch eines Menschen, der ins Wirtschaftswunder-Deutschland kam, um seinem chinesischen Schicksal zu entrinnen und der letztlich selbst dazu beitrug, das Schicksal der chinesischen Wirtschaft nach deutschem Beispiel umzulenken. Jahrzehnte nachdem er die entscheidenden Verhandlungen für das erste VW-Werk in China führte, sehe er die Rollen der beiden Länder sich verkehren, sagt Lee dem "Spiegel". Deutschland beginne, China wirtschaftlich hinterherzuhinken, was aus seiner Sicht drei Gründe habe.

Grund 1: China lernt von Vorbildern - einschließlich des alten Deutschlands

Dem "Spiegel" erzählt Lee, eines Tages im Jahr 1978 sei unangekündigt eine Delegation aus Peking im VW-Werk in Wolfsburg aufgekreuzt. Lee sei damals der einzige Chinese im Konzern gewesen und als Übersetzer zum Vorstand gerufen worden.

Der chinesische Maschinenbauminister habe Lee dann erklärt, dass man sich auf Erkundungstour in Deutschland befinde - um von den Deutschen zu lernen. Dennoch habe sich Peking damals nicht zugetraut, jemals PKWs zu bauen. "Unser Land ist zu arm, unsere Straßen sind zu eng", sagte der Minister. "Wir haben kein Benzin, kein Rohmaterial und vor allem keine Nachfrage."

Gemeinsam mit dem VW-Vorstandsvorsitzenden Toni Schmücker habe Lee der Delegation die Geschichte Nachkriegsdeutschlands erzählt und sie dazu ermutigt, nach mehr Wohlstand zu streben. Auch als die Delegation einige Monate später wiederkam und eine VW-Montagefabrik in China aufbauen wollte, habe der VW-Vorstand die Delegation gedrängt, größer zu träumen: Man solle gleich "eine richtige Produktion hochziehen".

Natürlich habe für VW der Eigennutz im Vordergrund gestanden. Aber China habe davon profitiert, die richtigen Vorbilder in Teilbereichen der Wirtschaft zu haben, deutsches Know-How beziehen zu können, sagt Lee heute. Deutschland müsse ebenfalls größer denken.

Grund 2: China geht Risiken ein - um schneller dazuzulernen

All die Ermutigungen des VW-Vorstands hätten China allerdings nichts gebracht, wenn das Land seine Chancen nicht zu nutzen gewusst hätte, sagt Lee dem "Spiegel". Dass die chinesische Delegation überhaupt nach Deutschland und zu VW gekommen sei, zeuge von großem Wissensdurst und einer Bereitschaft, von anderen zu lernen. China sei hungrig gewesen nach deutschem Wissen, nach Fortschritt.

Als VW endlich in China Fuß fasste, habe die chinesische Wirtschaft sich zudem außergewöhnlich schnell angepasst. Entscheidungen, die in Deutschland im bürokratischen Prozess erstickt worden wären, hätten die Chinesen blitzschnell und mutig getroffen.

Besonders in Erinnerung geblieben sei ihm in diesem Kontext der erste Joint-Venture-Vertrag zwischen VW und Peking, der im Oktober 1984 an bürokratischer Uneinigkeit zu scheitern drohte, sagt Lee.

Lee habe den damaligen Vizepremier Li Peng angerufen, der 1978 Mitglied der Delegation bei VW gewesen war. "Okay, Genosse", habe Peng einfach gesagt. "Ich spreche mit dem Protokollchef." Kurz darauf hätten sich die Probleme in Luft aufgelöst und die chinesische Automobilwirtschaft habe einen entscheidenden Schritt in die Zukunft getan.

Grund 3: China versteht den Unterschied zwischen Feindschaft und Konkurrenz

Mittlerweile sei China seinem einstigen Teilvorbild in vielerlei Hinsicht voraus, sagt Lee. Aus Angst ein vollständiges "Decoupling" (dt.: "Entkopplung") von China anzustreben, wie es viele der heutigen Politiker vorschlügen, sei jedoch eine idealistische - keine realistische - Lösung. Rein wirtschaftlich sei eine radikale Entkopplung von China "überhaupt nicht möglich". Beide Extreme - "Entkopplung" und "weitermachen wie bisher" - seien falsch.

Aus wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Sicht wünschenswert sei es vielmehr, zu erkennen, dass ein "Spektrum" zwischen den beiden Extremen existiere, auf dem man sich "bewegen" und "von Fall zu Fall entscheiden" müsse.

Statt den Westen pauschal gegen China zu setzen, müsse vernunftbasiert nach deutschen Interessen entschieden werden. Früher habe Deutschland das intuitiv verstanden. Jetzt müsse es von China lernen, dass es weder im Interesse der eigenen Wirtschaft sei, das Gegenüber als Feindbild zu betrachten noch sich ihm ideologisch zu fügen. Zu viele Politiker täten letzteres und zu viele Unternehmen hätten in der Vergangenheit "hundert Prozent in China investiert und [in Deutschland] gar nichts mehr", sagt Lee.

Stattdessen solle sich Deutschland wieder stark, bestimmt, pragmatisch und lernfähig zeigen. Noch werde die deutsche Wirtschaft ob ihrer Größe und Effizienz schließlich weltweit geachtet - das müsse man wieder nutzen. "Wenn du dich einem Rivalen oder Wettbewerber gegenübersiehst, musst du stark sein", sagt Lee. "Wenn du mit den Chinesen erfolgreich verhandeln willst, brauchst du Masse."


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